Die Digitalisierung erfasst jede Branche und stellt althergebrachte Geschäftsmodelle und Organisationssysteme auf den Kopf. Vom kleinen mittelständischen Maschinenbauer bis zum großen Energie- oder Automobilkonzern: Jeder Betrieb muss seine gewohnten Arbeitsweisen früher oder später radikal infrage stellen und sich auf neue Marktgegebenheiten einstellen. Er muss sich fragen, ob seine Produkte und Dienstleistungen unter diesen Gegebenheiten in Zukunft noch gefragt sein werden, oder ob sie von digitalen Lösungen verdrängt werden können – der innerstädtische Einzelhandel oder die Musikindustrie sind hier gute Beispiele, wie das laufen kann.
Die Entscheidungen zu treffen ist dabei alles andere als einfach. Prozesse und Produktsortimente umzustellen kann viel Geld kosten – ob es sich am Ende auszahlt, ist ungewiss. Aber wer nicht rechtzeitig mitmacht, kann auch schnell von alten wie neuen Konkurrenten aus dem Markt gedrängt werden: sei es ein alter Wettbewerber, der rechtzeitig die Zeichen der Zeit erkannt hat, oder sogar Google, Facebook oder ein neues Technologie-Startup, von dem vorher noch niemand etwas gehört hat. Wie können gerade kleinere und mittelständische Unternehmen sich hier richtig verhalten?
Das Problem: Innovation unter extremer Unsicherheit
Es ist ein Dilemma. Auf der einen Seite steht der Wettbewerbsdruck auf dem Markt: Wenn ein Konkurrent vor einem selbst Wege findet, digitale Technologien gewinnbringend einzusetzen, kann er seinen Kunden überlegene Angebote anbieten und sammelt außerdem bereits wertvolle Erfahrung im Umgang mit den Zukunftstechnologien. Die eigene Firma hinkt immer weiter hinterher und ist letztendlich davon bedroht, ganz abgehängt zu werden. Außerdem droht die Gefahr, dass Start-ups in den eigenen Markt eindringen und die eigene Firma mit einem komplett neuen Geschäftsmodell ausstechen, das auf digitalen Technologien basiert.
Wer jedoch die Flucht nach vorne antritt, begibt sich damit in totale Unsicherheit. „Woher weiß ich, ob der Markt bereits reif ist für den Einsatz von Augmented-Reality-Brillen in meiner Ladenkette?“ – „Werden meine Mitarbeiter diese neue Zeiterfassungs-App überhaupt nutzen, wenn ich sie im Betrieb einführe?“ – „Was, wenn der selbstfahrende Rasenmäher-Traktor am Ende gar nicht richtig funktioniert?“ – das sind typische Fragen, die sich dem Innovator zwangsläufig stellen werden. Wie ist nun damit umzugehen?
Die Lösung: Arbeit mit Prototypen und Nutzertests
Einen Lösungsweg zeigen die mittlerweile etablierten Methoden und Arbeitsweisen aus dem Silicon Valley auf, die Eric Riess in seinem Bestseller „The Lean Start-up“ beschreibt. Innovationen unter Unsicherheit entwickelt man demnach am besten mit dem sogenannten „validated testing“: Wie ein Wissenschaftler bei einem Experiment stellt man Hypothesen auf, nach welchen Problemlösungen der Markt verlangen könnte, und testet mit echten Menschen, inwieweit das der Realität entspricht. So kann man bereits früh Rückmeldung von realen Zielpersonen bekommen und sein Produkt dementsprechend daran anpassen. Wer beispielsweise die Idee für eine neue App hat, die Unternehmern einen Überblick über ihre Finanzen geben soll, kann ein paar Personen aus der Zielgruppe einen Prototyp der App testen lassen. Auch kann eine abgespeckte Version der App bereits in einem App-Store angeboten werden, um zu sehen, ob es reale Nachfrage für die Lösung gibt.
Ein Leitfaden für digitale Produktentwicklung
Folgender Ablauf bietet sich für dieses Unterfangen an:
- Marktrecherche durchführen über Wettbewerber, mögliche Partner und Zielgruppen.
- Hypothesen aufstellen über den Markt und die Zielgruppen: Man erstellt eine Hypothese über den zentralen Mehrwert, den das Produkt einem Nutzer geben kann (value hypothesis) und eine Hypothese wie das Produkt sich auf dem Markt verbreiten kann (growth hypothesis).
- Ideen sammeln für Lösungen, wie man die Bedürfnisse der Zielgruppen bedienen kann. Die Ideen werden im Team gesammelt und möglichst visuell festgehalten (Beispielsweise auf einem Whiteboard), sodass jeder sie immer vor Augen hat und alle über das Gleiche sprechen.
- Prototypen erstellen von Produkten, die auf vielversprechenden Ideen basieren. Beispielsweise eine Vorabversion einer App, die aber nur aus Bilddateien besteht und noch nicht wirklich programmiert ist.
- Testen der Prototypen: sie potenziellen Kunden zeigen und diese damit Aufgaben ausführen lassen. Die Reaktionen der Testpersonen sammeln und auswerten.
- Verbessern oder neu ausrichten der Prototypen: Entweder es zeigt sich, dass die ursprünglichen Hypothesen in die richtige Richtung gehen. Dann kann man diesen Weg weitergehen, verbessert aber Probleme, die sich bei den Tests gezeigt haben. Oder man findet heraus, dass die Nutzer eigentlich etwas ganz anderes für ihre Probleme brauchen – dann muss man das Produkt noch mal komplett neu aufsetzen anhand der neuen Erkenntnisse (pivoting).
Auch wenn sich mit diesen Methoden die Unsicherheit nicht ausschalten lässt, so kann man ihr doch deutlich systematischer entgegentreten. Und das Beste ist, dass sie nicht wirklich etwas Neues sind: In der Wissenschaft hat sich dieses Vorgehen des „Trial and Error“ bereits seit Jahrhunderten bewährt!